Wenn Otto Normal seine Gedanken aufschreibt, um sie zu sortieren, entsteht bestenfalls ein Durcheinander von Gedanken, aus denen sich irgendwie ein Standpunkt ableiten lässt. Wenn Außenminister Sigmar Gabriel schreibt, um sich über die aktuelle weltpolitische Situation klar zu werden, dann wird daraus ein Buch: „Neuvermessungen“, soeben erschienen bei Kiepenheuer & Witsch.
Weniger das Buch selbst als vielmehr seine Inhalte standen beim Besuch des Außenministers im Presse Club Hannover am vergangenen Samstagnachmittag im Vordergrund. Die Mitglieder stellten im kleinen Kreise Fragen, der Gast antwortete ernsthaft, natürlich und konkret. Seine szenischen Berichte von Außenminister-Treffen in der ganzen Welt ließen den Zuhörer nicht nur in der internationalen Diplomatie durchs Schlüsselloch gucken. Auch die Forderung des Außenministers nach einem selbstbewussteren Europa und einer Balance zwischen wirtschaftlichen Interessen und politischen Idealen wurde deutlich.
Mit einem flotten „Heute kann hier nichts geklaut werden, heute herrscht hier Sicherheitsstufe 1!“ begrüßte der Clubvorsitzende Jürgen Köster die Gäste, zu denen auch Walter Hirche gehörte, u.a. ehemaliger Niedersächsischer Wirtschaftsminister (FDP) sowie Gerd Nelke, Doyen des Konsularkorps Niedersachsen, Christian Pfeiffer, deutscher Kriminologe und ehemaliger Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, der Unternehmer Günter Papenburg und viele andere mehr.
Matthias Koch, früher Chefredakteur der HAZ, jetzt Chefredakteur des RND (Redaktionsnetzwerk Deutschland), der Gemeinschaftsredaktion der Madsack-Gruppe, die überregionale Inhalte für mehr als 30 Tageszeitungen zur Verfügung stellt, übernahm die Einführung ins Thema: „Eine Neuvermessung ist auch nötig, was den Politiker Sigmar Gabriel betrifft“. Dass seine Ernennung zum Außenminister zunächst vielerorts kritisch beäugt worden sei, beruhe auf einer Reihe von Missverständnissen, so der Journalist.
An vielen Beispielen zeigte Koch, dass Sigmar Gabriel schon als Ministerpräsident in Niedersachsen auf internationalen Reisen „weltweite Netze webte“ und heute davon profitiere, seit vielen Jahren Kontakte auf der internationalen Bühne geknüpft zu haben. Er beherrsche den lockeren Umgangston ebenso wie die klaren Worte: Bei der Amtseinführung von Rex Tillerson in den USA brach er das Eis mit dem Spruch: „We are the new kids on the block“. In Russland fand er bei allem Verständnis für die geopolitischen Bedürfnisse des Landes klare Worte dafür, dass neue Grenzziehungen mit Militärgewalt einen schweren Verstoß gegen das Völkerrecht darstellen.
Viele interessante Fakten später beendete Matthias Koch seine gehaltvolle Vorrede mit der Auffassung, dass „Europa trotz aller Unzulänglichkeiten ein guter Platz zum Leben“ sei. „Nirgends gibt es mehr Freiheit, soziale Sicherheit und Frieden!“
Sigmar Gabriel nahm den Faden einer von Koch erwähnten Nahostreise auf, die er im Jahre 2002 als Ministerpräsident unternommen hatte, und zeigte am Beispiel des syrischen Staatspräsidenten Baschar al Assad, wie sich politische Umstände und auch Menschen verändern können. Beim damaligen Besuch habe im Land Aufbruchstimmung geherrscht, der in Europa ausgebildete Präsident wirkte aufgeschlossen und gestaltungswillig. Inzwischen sei aus dem einstigen Hoffnungsträger „ein fürchterlicher Menschenschinder“ geworden mit den entsprechend dramatischen Folgen für die Bevölkerung und die Weltpolitik.
Als Außenminister ist Sigmar Gabriel ganz besonders intensiv mit den veränderten Gegebenheiten in der Welt konfrontiert. Neue Akteure, veränderte Machtstrukturen, gewandelte Interessen, immer gilt es, mit den äußeren Gegebenheiten umzugehen. Dafür forderte Gabriel in der aktuell stark veränderten weltpolitischen Situation von Europa, eine aktive(re) Position einzunehmen: Wenn Europa weiter hauptsächlich auf gemeinsame Standards auf Grundlage der westlichen Werte setze, gleichzeitig aber in der Welt zunehmend die Werte gegenüber individuellen Landes-Interessen in den Hintergrund träten, entstünde ein Vakuum, was Chancen eröffne für Akteure, die eindeutig nur Interessenspolitik betrieben.
Als Gegengewicht dazu forderte der Außenminister, dass Europa nach innen und außen selbstbewusster und unabhängiger auftreten müsse. Die Idee universeller Werte solle unbedingt weiter in die Welt getragen werden. Dafür werde es aber unabdingbar sein, dass sich Europa seiner eigenen Stärke bewusst sei und die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ausbaue bis hin zu einer gemeinsamen europäischen Sicherungsfähigkeit, „um nicht zu einer globalen Schweiz zu werden“, so der Minister.
Griechenland, der Brexit, Ideen zur Einbindung von Russland, seine Vorstellungen zu Wachstumsimpulsen für Europa und das Umgehen mit Afrika waren weitere Themen, zu denen Sigmar Gabriel im Presse Club Hannover horizonterweiternde Stellung bezog. Ganz persönlich auf seine Entscheidung für den Verzicht auf die Kanzlerkandidatur und seine beruflichen Zukunftsperspektiven angesprochen, zeigte er sich damit sehr zufrieden: „Ich fühle mich damit pudelwohl. Die Politik ist eine spannende Aufgabe. Die ist immer befristet, das ist klar. Für die Zeit nach den Wahlen halte ich es mit Beckenbauer: Schaun mer mal!“
Bericht: Nikola Meyerhoff
Fotos: Katharina Kümpel