„In den letzten Monaten hört man aber zunehmend Kritik und Enttäuschung gegenüber der EU und nationalistischere Töne. Genauso wie sich bei uns eine antirussische Stimmung breitmacht. Es ist wichtig, dass wir das Land und die Menschen verstehen, damit Kriegspropaganda nie wieder verfängt.“
Das schreibt Heino Wiese im Vorwort zu dem von ihm herausgegebenen, äußerst lesenswerten Buch „Russland – Menschen und Orte in einem fast unbekannten Land“. Und das hinterlegte er am 19. Mai 2015 im Presse Club mit Eindrücken aus persönlichen Gesprächen mit Russen, seien es hochrangige Politiker oder Wirtschaftsführer, denen er als Berater mit exzellenten Kontakten begegnet ist.
Schon aufgrund seiner ungeheuren Ausdehnung und seines Völkergemischs aus Europäern und Asiaten mit den unterschiedlichsten Religionen könne man Russland nicht mit unseren Maßstäben messen. Die Erfüllung des gemeinsamen Wunsches in Russland nach einem Leben wie die Europäer werde aber noch lange auf sich warten lassen. Dafür trügen neben der Auflösung der staatlichen Strukturen nach dem Zerfall der Sowjetunion auch die schwerwiegenden Fehler bei, die Putin neben der Annektierung der Krim und den Vorgängen in der Ukraine im Bereich der Wirtschaft begangen habe.
Die Betrügereien, mit denen sich die Oligarchen den Reichtum des Landes unter den Nagel gerissen hätten, seien am Beispiel Chodorkowskis deutlich geworden, der „jedes Jahr seiner Strafe verdient hat“. Ferner habe Putin bei der Bekämpfung der Korruption versagt und nur die alten Oligarchen durch seine Freunde ersetzt. „Die gesamte Spitze von Gazprom ist korrupt!“ Schließlich habe er die Entwicklung eines gesunden Mittelstandes nicht genügend gefördert und sich zu stark auf die Stabilität der Ölpreise verlassen.
Aber auch der Westen habe Fehler gemacht, indem er Vorschläge Putins z. B. 2001 im Bundestag, zur Annäherung Russlands ignoriert habe. „Die große Mehrheit der Russen denkt europäisch. Aber auch wir haben Demokratie lernen müssen“, stellte Wiese fest. Man dürfe nicht nur auf das „böse Russland“ blicken, sondern müsse auch die Gefühle von Menschen berücksichtigen, die Verheerendes durchgemacht hätten. Das hätten frühere Politiker stärker berücksichtigt, als das heute der Fall sei. Aber: „Man redet auch jetzt wieder miteinander, und ich bin zuversichtlich, dass sich Europa wieder stärker auf Russland zubewegt“, schloss Wiese optimistisch.
Ein bewegendes Ende fand der Abend mit der Erklärung des Ehrenvorsitzenden Rolf Zick (94), der schlimme Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft verbringen musste: „Ich habe meinen Frieden mit Russland geschlossen.“
Bericht: Ulrich Eggert