Hightech im Ohr für mehr Lebensqualität

Martin Blecker

Stell Dir vor, es findet der weltweit größte Hörakustiker-Kongress mit Vertretern aus 19 Ländern auf dem Messegelände statt und kein Journalist aus Hannover meldet Interesse an. Dabei geht es bei der Fachveranstaltung mit dem Schwerpunkt „Digitalisierung“ um Hörlösungen mit universeller Konnektivität, die für mehr Lebensqualität sorgen.

Doch Martin Blecker, Präsident der Europäischen Union der Hörakustiker, die den 63. Internationalen Kongress vom 17.-19. Oktober organisiert, regt das geringe Interesse der Medien vor Ort nicht auf. Denn er weiß um das Renommee des zweitägigen Fortbildungskongresses seines Verbandes in der Fachwelt. Beim Clubabend des Presse Club Hannover führte das langjährige Fördermitglied die Mitglieder unter dem Motto „Kann ich meinen Ohren trauen?“ auf eine spannende Reise vom Hören zum Verstehen.
 

Natürliches „Hörgerät“

In jedem Ohr steckt ein Verstärker: Winzige Membranen auf den Haarzellen im Ohr funktionieren wie ein elektrischer Verstärker. Dadurch nehmen wir auch sehr leise Töne wahr. Winzige Strukturen auf den Haarzellen im Ohr erzeugen durch Bewegung genügend Elektrizität, um leise Geräusche hörbar zu machen. Stereozilien sind feine Membranen, die sich zu winzigen Röhrchen zusammengerollt haben und in Bündeln auf den Haarzellen der Hörschnecke im Innenohr sitzen. Versetzt ein Schall ein solches Röhrchen in Schwingung, entsteht durch den sogenannten flexoelektrischen Effekt ein elektrisches Signal. Durch die Spannungsänderung werden Botenstoffe am Boden der Haarzelle freigesetzt, die das Signal an das Gehirn weiterleiten. Die Länge der Stereozilien entscheidet über die Frequenzen, die intensiviert werden: Kürzere Röhrchen verstärken vor allem höhere Töne, während die längeren auf niedrigere Töne ansprechen, berichten die Forscher. Das erkläre auch, warum Tiere andere Tonhöhen wahrnehmen – ihre Stereozilien haben eine andere Länge als die der Menschen.

Auch die Haarzellen selbst wirken als Verstärker, indem sie sich ausstrecken und zusammenziehen. Gemeinsam mit den Stereozilien ermöglichen sie es dem Menschen, Geräusche wahrzunehmen, die leiser sind als eine in normaler Lautstärke geführte Unterhaltung. Im Alter können die Stereozilien ausfallen, weshalb viele ältere Menschen leise Töne oder gar ein Flüstern nicht mehr wahrnehmen. Dann müssen künstliche Hörgeräte die natürlichen Verstärker ersetzen.
 

Hören und Verstehen

Die einzelnen Töne, Geräusche oder auch die Sprache, die wir hören, sind nichts weiter als Luftschwingungen. Bis aus dem Schall eine akustische Information mit einer bestimmten Bedeutung wird, muss er vom Außen-, über das Mittel- und Innenohr sowie über den Hörnerv alle Teile des Gehörs passieren, um als Reiz im Gehirn anzukommen.

Wenn der Schall im Innenohr angekommen ist, hat er nach wie vor noch keine Bedeutung. Mit dem Übergang in den Hörnerv werden aus den Schallwellen elektrische Signale, die zunächst auf den Hirnstamm treffen. Der Reiz wird in die Areale des Gehirns geleitet, die für emotionale Bewertung zuständig sind. So bekommen Töne eine Bedeutung und werden schließlich in der Hirnrinde mit bestehenden Mustern verknüpft. Dadurch verstehen Menschen Sprache, erkennen die Stimme eines Freundes oder wissen, ob eine Gefahrensituation besteht.

Hören können wir nur, wenn die Weiterleitung durch die einzelnen Stationen einwandfrei funktioniert, und aus schwingender Luft letztendlich ein warnendes Geräusch, angenehme Musik oder ein verständlicher Satz geworden ist.
 

Moderne Hörsysteme

Moderne Hörsysteme steuern die Kaffeemaschine, übersetzen im Ausland simultan ins Deutsche oder analysieren Körperbewegungen mit spezieller Sensortechnik. Bei einem Sturz kann automatisch ein Notruf ausgelöst werden, wenn die Hörgeräte via Bluetooth mit Smartphones, Telefonen oder GPS gekoppelt und mit speziellen Sensortechniken zur Sturzprophylaxe ausgestattet sind.

Mit hochmodernen Hörsystemen sei auch die Übersetzung jetzt schon möglich. Dazu müsste sich der Nutzer aber erst eine marktübliche Übersetzungs-App herunterladen und sich die Übersetzung des Gesagten per Bluetooth-Schnittstelle vom Smartphone auf sein Hörgerät übertragen lassen. Ohne Handy werde das erst in vier bis fünf Jahren möglich sein, „wenn die Speichermöglichkeit der Hörgeräte ausreichend groß ist“, sagte Blecker

Die Übersetzungsfunktion ist Teil der Strategie der Branche, Hörgeräte mit intelligenten Zusatzfunktionen „smarter“ und „cooler“ zu machen. So könnten sich Menschen mit einer Hörschwäche künftig Anrufe auf ihrem Smartphone per Knopfdruck auf ihr Hörgerät übertragen lassen. Störgeräusche etwa in einer Bahnhofshalle würden dabei von dem Hörgerät stark reduziert, wodurch der Hörgeräte-Träger den Anrufer sogar besser verstehe als jemand ohne Hörschwäche. Gleiches gelte für die Sprachhinweise von Auto-Navis: „Die bekommt der Hörgeräteträger jetzt direkt aufs Hörgerät – ungestört durch die lauten Fahrgeräusche im Auto“, erläuterte Blecker.

63. Internationaler Hörakustiker-Kongress
17. – 19. Oktober 2018, Deutsche Messe Hannover

Für den Kongress haben die Veranstalter ein Programm mit mehr als 20 Vorträgen, sieben Tutorials und einem Round Table zusammengestellt, bei dem ein prominent besetztes Panel das Thema „Digitale Revolution: Chancen und Risiken“ diskutiert. Weitere Inhalte aus den Bereichen Audiologie, Wissenschaft, Industrie und Hörakustik zeigen internationale Entwicklungen und aktuelle Diskussionen auf.

Das Programm beginnt nach der Kongresseröffnung am Mittwoch mit den Themen Höranstrengung, Kognition und Hören sowie dem Freiburger Einsilbertest. Den Donnerstag haben die Veranstalter ganz dem Thema „Digitalisierung“ gewidmet. Dabei werden Facetten wie Teleaudiologie, Machine Learning und der Otoscan sowie Konnektivität und Datenverarbeitung genauer beleuchtet. Am Freitag steht unter anderem die Tinnitusforschung im Mittelpunkt, dazu kommen Themen wie Hörsystem-Evaluierung, Knochenleitungssysteme und Abformtechniken. Zu den Referenten gehören national und international anerkannte Mediziner, Wissenschaftler, Audiologen und Hörakustiker. Weitere Informationen finden Sie hier.
 

Schöne neue Welt?

Die Autorin, die sich eher schwertut mit dem Sprachenlernen, freut sich nun auf viele Fernreisen bis ins hohe Alter: Dank der Übersetzungsfunktion lässt sie sich dann auch ohne Fremdsprachenkenntnisse Worte ihrer einheimischen Gesprächspartner simultan ins Deutsche übertragen.


Bericht: Katharina Kümpel
Fotos: Torsten Hamacher